Der Vagusnerv – die Datenschnellstraße zwischen Körper und Gehirn.

By Robert Pap | Blog

Jan 26

Der Vagusnerv – die Datenschnellstraße zwischen Körper und Gehirn

Beim Vagus-Nerv ist der Name Programm: Das lateinische Verb vagari heißt so viel wie „wandern“ oder „umherschweifen“. Er hat von allen zwölf Hirnnerven die größte Reichweite. Er wandert vom Hirnstamm zu Herz, Lunge, Magen, Leber, Blase usw. bis hin zum Darm. Kurz: Er ist mit fast allen inneren Organen verbunden.

Die Hauptfunktion von Nerven ist es, Informationen zu transportieren. Wir sehen einen knackigen grünen Apfel, und das Auge meldet über den entsprechenden Nerv an unser Gehirn, dass es hier etwas Feines zu essen gibt. Das Gehirn schickt dann seinerseits Botschaften los, etwa an die Muskeln: Jetzt bitte Arm ausstrecken, Hand öffnen und zugreifen! Und an die Speicheldrüsen: Wasser marsch, gleich gibt es etwas einzuspeicheln!

Dabei unterscheidet man zwischen sensorischen und motorischen Reizen, je nachdem, ob ein sinnliches Empfinden oder ein Bewegungsbefehl übermittelt wird. Der Vagus-Nerv ist ein gemischter Nerv, das heißt, er kann beide Sprachen. Und zwar in beide Richtungen: Mit unfassbarer Geschwindigkeit jagt er permanent Meldungen zwischen Organen und Gehirn sowie zwischen unterschiedlichen Organen hin und her.

Eine weitere Eigenschaft des Vagus-Nervs ist, dass er nicht nur die Arbeit unserer inneren Organe steuert, sondern auch auf unseren emotionalen Zustand einwirkt – und damit zugleich auf unser Verhalten. Zwar betrachten wir uns gerne als rationale Wesen, aber unser Verhalten ist weitaus stärker von Emotionen beeinflusst, als uns bewusst ist. Und diese sind wiederum von unserem physiologischen Grundzustand abhängig.

Da ist es naheliegend, dass der Vagus-Nerv auch bei den sogenannten psychosomatischen Erkrankungen eine Rolle spielt. Das griechische Wort soma bedeutet Körper. Psychosomatik beschreibt das Phänomen, dass psychische Probleme sich in körperlichen Beschwerden, wie z.B. chronischen Verspannungen oder Magengeschwüren, manifestieren können. Noch wird allerdings kaum davon gesprochen, dass es auch umgekehrt sein könnte und der körperliche Zustand auf die Psyche wirkt – es also auch somatopsychische Erkrankungen gibt.

Alle Eigenschaften des Vagus-Nervs zusammengenommen – also Reichweite, Richtung, Bandbreite und Geschwindigkeit seiner Übertragungen – erklären, warum der Vagus-Nerv eine so große Bedeutung hat. Ist er in seiner Funktion gestört oder eingeschränkt, kann das massive Folgen für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit haben.

Der Vagus-Nerv nimmt im autonomen Nervensystem eine besondere Stellung ein.

Wenn wir vom autonomen Nervensystem sprechen, tun wir häufig so, als gäbe es bloß ein großes Gesamtnetzwerk. Tatsächlich besteht es aber aus verschiedenen Schaltkreisen. Einer davon ist das parasympathische System, auch Parasympathikus genannt – und der Vagus-Nerv ist sein wichtigster Drahtzieher.

Der Parasympathikus kommt immer dann zum Zug, wenn wir uns sicher und entspannt fühlen. Er reguliert dann etwa unseren Atem, Stoffwechsel, Verdauung und Herzfrequenz. In diesem Ruhemodus atmen wir ruhig, haben einen Puls auf Normalgeschwindigkeit, entspannte Muskeln und eine aktive Verdauung.

Der Gegenspieler dazu ist der Sympathikus, der unsere Stressreaktionen steuert und uns in den Fight-or-Flight-Modus bringt. Atem und Herzschlag werden beschleunigt, die Muskeln spannen sich, Stresshormone werden ausgeschüttet, unsere Sinne verschärfen sich. Gleichzeitig werden andere Funktionen, wie bspw. die Verdauung, unterdrückt.

Sympathikus für Stress, Parasympathikus für Entspannung – das war in der Wissenschaft lange Zeit Konsens. 

Die Polyvagal-Theorie

Bis im Jahre 1994 Stephen Porges einem erstaunten Fachpublikum seine sogenannte Polyvagal-Theorie vorstellte. Sie besagt, dass der Vagus-Nerv nicht nur wie alle anderen Hirnnerven aus zwei verschiedenen Strängen bzw. Ästen besteht, sondern dass diese auch unterschiedliche Funktionen im Körper erfüllen.

Der vordere – ventrale – Vagus-Ast verläuft bauchseitig und funktioniert als enger Mitarbeiter des Parasympathikus, wie wir ihn kennen. Außerdem ist er zuständig für das sog. Social Engagement System, das nur aktiv ist, wenn wir uns sicher fühlen: Nur dann sind wir sozial zugewandt, suchen Kontakt und Kommunikation. Evolutionär gesehen ist der ventrale Vagus-Ast der jüngere, im gesamten Tierreich besitzen nur Säuger diesen vorderen Schaltkreis.

Der hintere – dorsale – Vagus-Ast ist uralt und bei allen Wirbeltieren vorhanden, vom knochenlosen Fisch bis zum Menschen. Laut Porges' Theorie steuert er den dritten Schaltkreis des autonomen Nervensystems. Dieser Schaltkreis ist für den sogenannten Shutdown zuständig, die evolutionär gesehen älteste Überlebensstrategie.

Das Gefühl eines Shutdowns kennt jeder, der schon einmal unter Schock gestanden hat. Man ist wie erstarrt. Einem bleibt die Luft weg, die Muskeln erschlaffen und man kann sich nicht rühren. Das Blut wird aus Kopf und Extremitäten abgezogen, sodass Hände und Füße sich taub anfühlen. Im äußersten Fall wird man sogar ohnmächtig. Das ist jedoch nützlicher, als man denkt, denn es spart Energie, die zur Aufrechterhaltung der vitalen Organfunktionen benötigt wird.

Unsere Neurozeption ist überfordert mit der Masse moderner Stressoren.

Ob uns etwas Angst und damit Stress macht, hängt maßgeblich davon ab, wie wir es für uns einordnen und in welchem Kontext es passiert. Doch woher wissen wir, in welchem Kontext wir uns befinden? Ganz einfach: Es ist unsere Neurozeption, die das entscheidet.

Neurozeption bezeichnet die Wahrnehmungsfähigkeit unseres Nervensystems. Sie schätzt innerhalb von Bruchteilen von Sekunden eine Situation oder ein Gegenüber ein. 

  • Will mein Kollege mir Böses? 

  • Was ist das für ein unangenehmer Luftzug? 

Gleichzeitig gibt sie auch permanent Updates über unseren physiologischen Zustand an das Gehirn weiter. Alle diese Informationen werden in Emotionen übersetzt, die wiederum unser Verhalten beeinflussen.

Das Problem dabei ist, dass unser jahrtausendealtes Nervensystem nicht für die zahlreichen Stressoren unserer Gegenwart ausgelegt ist. Unsere Neurozeption kann ziemlich eindeutig einen hungrigen Löwen als Gefahr einordnen – aber wie soll es eine nahende Deadline oder den genervt dreinblickenden Typen im Bus einschätzen? 

Damit ist die Neurozeption überfordert – und sendet manchmal falsche Signale. Sie ist dann wie ein Wachhund, der die ganze Zeit die Falschen anbellt.

Schon ein harmloses Signal – ein bestimmter Tonfall, ein Geruch, ein flüchtiges Gefühl – kann zum Trigger werden. Die Folge: Wir flippen aus, werden zum Nervenbündel oder erleben gar einen Totalausfall. Und das häufig ohne überhaupt zu wissen, warum. Denn die Neurozeption ist wesentlich schneller als unsere verstandesmäßige Wahrnehmung.

So kann es z.B. passieren, dass wir uns mitten in einem Gespräch plötzlich verspannen und unwohl fühlen, obwohl gar nichts Negatives gesagt wurde. Vielleicht hat unser Gegenüber einfach eine bestimmte Stimmlage oder Körperhaltung angenommen, die uns unbewusst in ein negatives Erlebnis in unserer Vergangenheit zurückkatapultiert. Kurz: Wir werden getriggert.

Passiert das immer wieder, ohne dass wir hinterher wieder aus dem Zustand herauskommen, führt das zu einem daueraktiven hinteren Vagus-Ast, der uns vormacht, dass wir in ständiger Lebensgefahr seien. Das geht nicht nur an die Substanz, sondern kann langfristig auch zu psychischen Problemen führen.

Die Stimulierung des vorderen Vagus-Nervs kann die Lebensqualität verbessern.

Zugegeben, das war wirklich eine Menge Theorie! Und sicher wollen Sie endlich wissen: 

  • Was nützt mir denn nun all das Wissen für mein Leben und für meine Gesundheit? 

  • Wie kann mir der Vagus-Nerv dabei helfen, gesünder, entspannter und glücklicher zu werden?

Es hat sich ja schon angedeutet ­– Gesundheit und Entspannung, und damit auch Glück und Lebensenergie, sind nur mit einem voll funktionsfähigen vorderen Vagus-Ast zu erreichen. Ohne ihn kommen wir nach stressigen oder gefährlichen Situationen nicht in den Modus von Ruhe, Entspannung, Kontakt und Kommunikation zurück, sondern bleiben im Gefahrenzustand, selbst wenn wir längst wieder in Sicherheit sind. 

Dabei sollten unsere Gefahrensysteme wirklich nur das sein: Systeme für Gefahr.

Selbstverständlich sollten wir bei schweren oder chronischen Beschwerden immer einen Arzt aufsuchen. Sind Sie aber z.B. einfach nur gestresst oder plagen sich mit einem lästigen Zipperlein herum – seien es Nackenschmerzen, Verdauungsprobleme oder Kopfschmerzen – dann könnten Sie es einmal damit versuchen, Ihren vorderen Vagus-Ast zu stimulieren.

Stanley Rosenberg hat ein Buch dazu geschrieben und entwickelte eine Grundübung dazu. Sie ist ganz einfach, dauert nur ein paar Minuten und wirkt kumulativ, d.h., je öfter Sie sie machen, desto wirksamer ist sie und desto länger hält die Wirkung an. 

Sie geht folgendermaßen:

Legen Sie sich bequem ausgestreckt auf den Rücken und verschränken Sie die Finger hinter dem Kopf. Die Ellenbogen können Sie entspannt ablegen. Sie sollten die Knochen Ihrer Finger am Hinterkopf spüren können.

Nun blicken Sie nach rechts, ohne Ihren Kopf mitzudrehen. Schauen Sie so weit zur Seite, wie es Ihnen problemlos möglich ist. Halten Sie Ihren Blick so lange dort, bis Sie entweder seufzen, gähnen oder schlucken müssen. Das wird bereits nach kurzer Zeit passieren, etwa nach 30–60 Sekunden oder schneller.

Führen Sie dann die Augen wieder zur Mitte. Bleiben Sie in Ihrer Position und wiederholen Sie dann das Ganze auf der linken Seite.

Das war es schon! Bleiben Sie noch einen Moment liegen und spüren Sie nach, ob sich etwas verändert hat. 

  • Vielleicht hat sich die Beweglichkeit Ihres Kopfes verbessert? 

  • Geht die Atmung leichter? 

Da Augenmuskeln, Nerven und Vagus-Nerv alle direkt oder indirekt miteinander verbunden sind, können Sie durch diese einfache Bewegung der Augen gleich an mehreren Stellen im Körper eine Veränderung herbeiführen. Für den besseren Vergleich sollten Sie jeweils vor der Übung kurz nachfühlen, wo es zwickt, und testen, wie weit Sie z.B. Ihren Kopf problemlos nach rechts und links drehen können.

Ein kluger Ausspruch besagt: Wem es gelingt, an jedem Tag seines Lebens die richtige Balance zwischen Spannung und Entspannung herzustellen, der braucht nie wieder einen Tag Urlaub. Mit dem Wissen über den Vagus-Nerv können wir diesem Ziel ein Stückchen näher kommen. Das war ein Beitrag der Blinkist Redaktion, den ich ein klein wenig abgeändert habe.

Den eigenen Vagus-Nerv zu aktivieren, geht eigentlich ganz einfach durch 

  • spezielle Atemübungen, 

  • Tipps für den optimalen Schlaf, 

  • Summen, 

  • Singen, 

  • Würgreflex, 

  • gurgeln, 

  • lachen, 

  • Yoga, 

  • Bewegung, 

  • Musik hören, 

  • Akupunktur am Ohr, 

  • spezielle Massagen und 

  • Klopftechniken. 

Wenn Sie dazu mehr wissen wollen, dann besuchen Sie mich in meiner Wiener Praxis im ersten Bezirk ab März 2020 oder schreiben Sie mir eine E-mail an abundzu@freiraeumen.com und vereinbaren einen Termin.

About the Author

DI Robert Pap, Mentalcoach und Raumdesigner. Gründer von Freiräumen.com mit dem Schwerpunkt Stressmanagement

>